30.05.2012 Theodor Ickler Paradigmen als SyntagmenEin Artefakt der strukturalistischen MethodeVor 25 Jahren habe ich einen Aufsatz "Paradigmen als Syntagmen" veröffentlicht. Er galt dem didaktischen Thema der Wortschatzvermittlung, aber den allgemeineren Teil daraus möchte ich gern einmal hier zur Diskussion stellen:Aus: Fremdsprachen Lehren und Lernen 16, 1987 (gekürzt und leicht verändert) (...) In der Sprach- und Entwicklungspsychologie ist bekannt, daß sich verbale Assoziationen bei Kindern und Erwachsenen in charakteristischer Weise unterscheiden. Wenn eine Versuchsperson zu einem vorgegebenen Wort ein anderes nennen soll, das ihr dazu spontan einfällt, antwortet ein Kind häufiger mit einem solchen Wort, das in einem Text unmittelbar auf das Reizwort folgen könnte: Stimulus: Hund > Antwort: bellen oder bellt. Der Erwachsene nennt dagegen eher ein Wort, das in einem Text statt des Reizwortes stehen könnte: Hund – Katze. Daraus folgt übrigens logisch, daß es sich beim Erwachsenen um die gleiche Wortart, beim Kind um verschiedene Wortarten von Stimulus- und Reaktionswort handeln wird und daß aus dieser ableitbaren Tatsache keine weiteren Schlüsse gezogen werden sollten. In die Beschreibung des Phänomens, wie ich sie gegeben habe (vgl. auch Ervin 1961; Hörmann 1977:78ff.; Clark 1970; Salus 1980; Raible 1981 – alle mit weiterer Literatur), gehen allerdings bereits Erklärungsmomente ein. So auch in die häufigste Formulierung des Befundes: Kinder assoziieren vorwiegend syntagmatisch, Erwachsene paradigmatisch. Die Gültigkeit dieser begrifflichen Unterscheidung wird also immer schon vorausgesetzt. Die Experimente, die in der psychologischen Literatur angeführt werden, sind mit isolierten Wörtern durchgeführt worden; ein Bezug zu Texten findet sich erst in der Beschreibung und Deutung, wo man der Sache nach auf Saussures Unterscheidung von Verbindungen in praesentia (syntagmatisch) und in absentia (paradigmatisch) zurückgreift. Meiner Ansicht nach setzt jedoch die Bezugnahme auf (mögliche) Texte zu spät ein. Ich möchte dies anhand der repäsentativen Arbeit von Clark (1970) verdeutlichen. Clark stellt die von ihm und anderen Autoren entdeckten „Regeln“ der Wortassoziation zusammen. Es sind einerseits die paradigmatischen: 1.die Regel des minimalen Kontrastes: long – short, good – bad, boy – girl; 2.die Regel der Tendenz von der Markiertheit zur Unmarkiertheit (eher als umgekehrt): better – good, dogs – dog; 3.die Regel der Tilgung und Hinzufügung von Merkmalen (Super- und Subordination): apple – fruit, fruit – apple, kill – die; 4.die Regel der Erhaltung der Wortart. Dem stehen die syntagmatischen Assoziationstypen gegenüber: 5.die Regel der Realisierung ausgewählter Merkmale: young – boy, girl, child, man, people; 6.die Regel der Vervollständigung fester Verbindungen: cottage – cheese. Clark schreibt den Assoziationstypen unterschiedliche psychische Qualität zu und führt sie auf unterschiedliche Prozesse zurück. Bereits wesentlich früher hatte George A. Miller (1951) eine noch subtilere Klassifikation der an sich in bunter Fülle produzierten Assoziationen vorgelegt: Antonymie, Synonymie, Unterordnung, Überordnung, Gleichordnung, Assonanz, Teil > Ganzes, Wortverbindung, Wortableitung, „Egozentrismus“, Prädikation ... [Noch früher hat C.G. Jung die Assoziationen zu klassifizieren versucht; zur Kritik vgl. Skinner VB.] In neuerer Zeit sind ähnliche Vorschläge gemacht worden, meist unter dem Einfluß Clarks und unter Berücksichtigung der von Lyons zusammengestellten „Sinnrelationen“. James Deese jedoch wandte schon 1965 gegen Millers Unterscheidungen ein, was seither nichts von seiner Gültigkeit verloren hat: „Die Klassifikationen sind teils psychologisch, teils linguistisch und teils philosophisch (epistemologisch). Diese Klassifikationen sind selten im Assoziationsprozeß selbst angelegt, sondern werden ihm ohne Rücksicht aufgepfropft. So wird versucht, in Assoziationen Beziehungen hineinzuinterpretieren, die sich in Grammatiken, verschiedensten Lexika und psychodynamischen Theorien finden, oder Ansichten über die Organisation der physikalischen Welt entstammen.“ (Deese 1965, hier dt. nach Slobin 1974:86; vgl. auch Wender u. a. 1980:9.) Das bunte Durcheinander der Assoziationstypen, das uns geradezu auf wunderbare grammatische, rhetorische und logische Fähigkeiten des Gehirns schließen lassen könnte, klärt sich weitgehend auf, wenn man die Wortassoziationen einheitlich als Textroutinen zu begreifen versucht. Dazu ist es erforderlich, nicht erst die Ergebnisse von Assoziationsleistungen, sondern schon deren Bedingungen unter textuellem Aspekt zu sehen bzw., im Falle von Experimenten, zu planen. Es ist keine Verkennung des grundsätzlichen Unterschiedes von Text und Situation, wenn man festhält, daß beide den allgemeinen Gesetzen der Wahrnehmung unterliegen. Dazu gehört die Unterscheidung von Figur und Grund. Exponiert der Versuchsleiter visuell oder akustisch das Wort groß, so ist dieses Wort für den Probanden unter allen Umständen eine hervortretende Figur, denn erstens ist es von einer leeren Bildfläche bzw. Stille umgeben, und zweitens gibt es ohnehin fast keinen Reiz, der es an aufmerksamkeiterregendem Wert mit der menschlichen Sprechstimme aufnehmen könnte. Textpsychologisch gesehen, ist die Versuchssituation also einem fokussierenden Kontext gleichzusetzen. Dadurch werden die unwillkürlichen Mechanismen ausgelöst, die auch sonst beim Sprechen das Hervorbringen und das Verstehen der Rede vorantreiben. Der Proband erzeugt folglich die üblichste Fortsetzung des mit dem Reizwort begonnenen „Textes“. Mangels eines allgemeinen Hintergrundes wird es sich oft um die Hervorbringung eines Kontrastwortes handeln, denn Fokussieren bedeutet: gegen Alternativen absetzen. Die antonymische Assoziation ist daher die am ehesten zu erwartende, im angenommenen Text also das Wort klein. Alles kommt nun darauf an, dieses Wort durchaus als syntagmatische, wenn auch nicht unmittelbar anstoßende Fortsetzung des „Textes“ zu verstehen. Treten dagegen Hyperonyme auf (Clarks 3. Regel), so entspricht dies der mächtigen Textbildungsroutine der Wiederaufnahme durch merkmalärmere Begriffe. Überhaupt muß das Hinzufügen und Tilgen von Merkmalen im Zusammenhang mit dem Spiel der ständigen Verlagerung der Abstraktionsebene und der Veränderung des Kompaktheitsgrades gesehen werden, aus denen das Sprechen nun einmal besteht. Die 2. Regel (Clarks Markierungsregel) ist schwach belegt. Erklären könnte man sie vielleicht so: Da die primäre, mit Abstand stärkste Antwort auf good ohnehin bad ist und nicht better, überrascht es nicht, daß auf better häufiger good assoziiert wird als umgekehrt. Eine Erklärung für die letzte „Regel“ suchen zu wollen wäre überflüssig. Die paradigmatischen Assoziationen sind ja, wie gesagt, so definiert, daß sie die Wortart beibehalten, weil sie an derselben Textstelle austauschbare Wörter liefern. Unter Clarks Regeln fehlt im Grunde noch eine. Die Psychologen nehmen an, daß die allererste – meist, aber nicht immer stumme – Antwort auf ein Stimuluswort die identische Wiederholung dieses Wortes selbst sei. Diese primäre Reaktion fügt sich bruchlos in unser textbezogenes Erklärungsschema: Jedes Wort ist ein textuelles Synonym seiner selbst. (...) Ich fasse zusammen: Nicht nur die als „syntagmatisch“ erklärten Assoziationen manifestieren Textbildungsroutinen, sondern auch die als „paradigmatisch“ aufgefaßten lassen sich auf der Grundlage von Textbildungsroutinen erklären. Der in logisch-semantischer Reflexion festzustellende kategoriale Unterschied existiert also in psychologisch-genetischer Hinsicht nicht, er ist ein durch die Betrachtungsweise erzeugtes Artefakt. (...) Die oben erwähnten, sicher nachgewiesenen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen stellen kein zusätzliches Problem dar, sondern stützen die vorgeschlagene Erklärung. Sowohl das „syntagmatische“ als auch das „paradigmatische“ Assoziieren bringen mögliche Textfortsetzungen hervor. Die kindgemäße Assoziation ist jedoch meist die unmittelbare Fortsetzung eines möglichen Textes, während der Erwachsene eine mittelbare Fortsetzung, genauer: meist das nächste sinntragende und daher auch zu betonende Zeichen assoziiert. Der entwicklungsbedingte Mangel an Routine nötigt das Kind dazu. kurzschrittig, kleinräumig zu planen, während der Erwachsene eher eine Textskizze vorausentwirft, d. h. in Gedanken die wichtigsten Sinnstützpunkte absteckt und die Ausfüllung der Zwischenräume seiner eher grammatischen Automatik überläßt. Man kann dies als ein Vordergrund- und Hintergrundgeschehen auffassen oder als eine Wirkung der Aufmerksamkeit, die sich im Deutschen im Betonungsprofil eines jeden Textes niederschlägt. Der entwicklungspsychologische Befund ist ja nicht auf das Sprechen beschränkt. Auch auf anderen Gebieten zeigt sich eine geringere Planungsspannweite des Kindes. Man kann diese Erscheinungen wiederum in verschiedenen psychologischen Modellen darstellen. Es ist aber unbestritten, daß sie mit der zunehmenden Ausbildung von Routinen (Automatisierung) zusammenhängen. Woran liegt es nun, daß der syntagmatische Charakter auch der „paradigmatischen“ Assoziation im allgemeinen verkannt wird? Meiner Ansicht nach an der Textferne der jüngeren psycholinguistischen Forschung. So konnte David Mcneill, der sogar einen Vorrang des Paradigmatischen vor dem Syntagmatischen behauptet, erklären: „The reason that paradigmatic dominance poses a challenge to the traditional theory of word association is that words from the same part of speech rarely appear together in sentences.“ (1966:548) Ähnlich schreibt Hans Hörmann: „Im Sprachverhalten des Alltags kommt kaum je die Abfolge Tisch – Stuhl oder die Abfolge groß – klein vor.“ (1977:80) In solchen Fassungen der These ist also nicht einmal eine Einschränkung auf die unmittelbare Kontaktstellung vorgesehen. Damit steht die These aber im Gegensatz zur Wirklichkeit der Texte. Zwischen dem unmittelbaren Kontakt und dem Gar-nicht-zusammen-Vorkommen liegt eben die breite Zone der vermittelten Kontextnachbarschaft. Dabei braucht man noch gar nicht an die Phraseologie zu denken, die selbstverständlich ebenfalls die zitierten Thesen widerlegt (vgl. wie Hund und Katze; die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen usw.). Zur Klärung der Auffassung, die hier vertreten wird, seien noch einige Überlegungen zur sogenannten Zweiachsentheorie der Sprache angestellt, wie sie vor allem von Roman Jakobson vertreten und in klassischer Prägnanz formuliert wurde: „Anwendung der Sprache bedeutet eine Auswahl von bestimmten linguistischen Größen und deren Kombination zu linguistischen Einheiten von höherem Komplikationsgrad. Im lexikalischen Bereich ist dies ganz offenbar: der Sprecher wählt Wörter aus und kombiniert sie entsprechend den syntaktischen Regeln dieser Sprache zu Sätzen; Sätze werden ihrerseits zu größeren Äußerungen verknüpft.“ (Roman Jakobson: „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen“. In: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Frankfurt 1979:119) Es ist merkwürdig, daß sich so gut wie nie ein Hinweis auf das Fiktionale dieser Darstellung, ihre recht unwissenschaftliche Bildhaftigkeit findet. Oder sollten mit „Wählen“ und „Kombinieren“ tatsächlich und ganz unbildlich Handlungen des Sprechers gemeint sein? Wenn man etwa die Darstellung bei Elmar Holenstein, einem getreuen Anhänger und Interpreten Jakobsons, liest, könnte man es meinen: „Wenn wir sprechen, vollziehen wir zwei Handlungen. Wir wählen aus einem vorgegebenen Arsenal von linguistischen Einheiten gewisse aus und verbinden sie zu komplexeren Einheiten.“ (1975:142) Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, daß Jakobsons auf der Zweiachsentheorie beruhende Arbeiten zum Spracherwerb und zur Aphasie bei theoretisch arbeitenden Linguisten weit mehr Beifall gefunden haben als bei empirisch und klinisch orientierten Wissenschaftlern. Auch in der Anwendung auf die Ästhetik scheint mir der blendende Effekt mancher Formulierungen („Die poetische Funktin überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“) über den mageren Gehalt an wirklicher Einsicht hinwegzutäuschen. In der allgemeinen Semiotik lädt das Verfahren zu hemmungsloser Geistreichelei ein. Natürlich kann man nach diesem Muster die Speisekarte als Paradigma und das Menü als Syntagma deuten, aber was ist damit wirklich gewonnen? (...) Der strukturalistische Begriff des Paradigmas leidet seit je an der Zweideutigkeit, daß er einerseits „logisch“, nämlich als Substitutionsklasse definiert ist, andererseits assoziationspsychologisch. Im Sinne der ersten Deutung kann man also etwa sagen: In einem Satz wie Otto hat heute ein paar Mark gefunden wird durch das betonte Mark eine Reihe von Kontrastwörtern ausgeschlossen, die an derselben Stelle stehen könnten: Pfennig, Groschen, Äpfel, Vogeleier (vgl. Harweg 1971:130). Die Fülle der möglichen Alternativen ist jedoch psychologisch ganz irrelevant und muß – wie u. a. Wolfgang Raible (1981) erkannt hat – auf die empirisch tatsächlich anzutreffenden Assoziationen eingeschränkt werden, um linguistisch interessant zu bleiben. Im Beispielsatz ist etwa Pfennig eine plausible Alternative zu Mark, denn beide bilden Antonyme unter einer „gemeinsamen Einordnungsinstanz“. Äpfel ist dagegen nicht plausibel. Elmar Holenstein konstruiert folgendes Beispiel: Mein – Vater – liest – die – Nachrichten Durch Austauschoperationen gelangt er zu diesen Paradigmen, die in der Senkrechten abzulesen sind: Unser – Papa – mustert – ein – Blatt Sein – Onkel – überfliegt – jene – Zeitung Die Wörter, die hier „ausgewählt“ zu sein scheinen, gehören offensichtlich nicht nur Substitutionsklassen an, die lediglich die Bedingung der Wortartzugehörigkeit erfüllen, um definitionsgemäß in die jeweiligen „Slots“ zu passen, sondern demselben semantischen Feld; es sind Synonyme im weiteren Sinne. Wie es zu dieser Vorauswahl kommt, bleibt unerklärt.
Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
|